Moderne Arbeitswelten
Aktuelle Beiträge

Herausfordernde Zeiten für globale Lieferketten
Die Coronapandemie mit all ihren Auswirkungen und Nebenschauplätzen stört die globalen Lieferketten bis heute empfindlich. Nahezu alle Wirtschaftszweige sind in irgendeiner Form betroffen. Doch wie gehen Unternehmen mit dieser Herausforderung um? Im FACTS-Interview gibt Gordon Raschig, Head of Supply Chain Management beim IP-Telefon-Hersteller Snom, Einblicke in die derzeit unberechenbare Logistik-Welt.
Gordon Raschig: Bis Ende 2019 waren Lieferzeiten auch weltweit gut planbar. Die aufgrund perfekt abgestimmter Transportwege entstandene Verzahnung der Lieferketten gestattete es sogar, von Just-in-Time-Produktion zu sprechen. Sie ermöglichte eine hochgradige Optimierung von Transport- und Lagerkosten. Doch diesem Zustand wurde vor zwei Jahren abrupt ein Ende gesetzt: Durch den dreimonatigen harten Lockdown in China Anfang 2020 wurden alle vorher gültigen Wahrheiten ad absurdum geführt. Für die Industrie waren Rohstoffe, Halbleiter und anderweitige Komponenten knapp. Noch heute sind einige Ressourcen und Produkte von einem enormen Lieferstau betroffen.
FACTS: Gibt es zusätzliche Faktoren, welche die Lage erschweren?
Raschig: Im April 2021, also ein Jahr nach Pandemie-Beginn, erfolgte obendrein die Blockade des Suezkanals durch die Havarie der Ever Given. Die einwöchige Bergungszeit des Frachters sorgte für einen wirtschaftlichen Schaden von geschätzt bis zu zehn Milliarden US-Dollar. Bis heute sind diese Verzögerungen selbst im Hamburger Hafen nicht abgearbeitet. In Deutschland werden deshalb Containerschiffe zum Teil kurzfristig auf Bremerhaven und Wilhelmshaven umgeleitet. Dort sind Infrastruktur und Kapazitäten allerdings nur begrenzt in der Lage, den gestiegenen Anforderungen gerecht zu werden, was zusätzliche Verzögerungen von bis zu zwei Wochen bewirkt.

Gordon Raschig
„Wir suchen stets nach Möglichkeiten für Lieferzeitoptimierungen sowohl im Import als auch im Export und bedienen uns mittlerweile des gesamten Portfolios.“
Raschig: Auch bei der Luftfracht – einem Markt, der über gleichwertige Kapazitäten wie die Seefracht verfügt, jedoch kostspieliger ist –, erlebte man zahlreiche Engpässe. Mitte 2020 wären trotz der höheren Kosten fast alle Unternehmen bereit gewesen, auf Luftfracht umzusteigen. Das Transportvolumen der wenigen Frachtflugzeuge, die starten durften, wurde allerdings beinahe vollständig für die Sicherstellung der medizinischen Grundversorgung der Länder benötigt. Wenn etwas Platz ergattert werden konnte, dann nur „last minute“ und zu einem vielfach erhöhten Preis.
FACTS: Die Situation scheint alles andere als einfach. Was bedeutet das konkret für Unternehmen? Vor welchen Problemen stehen sie?
Raschig: Diese fortdauernde Überlastung führt nicht nur zu relevanten Störungen der Lieferketten und Produktionen, sondern auch zu einem regelrechten Preiskrieg auf dem Seefracht-Markt. Während die Kosten für die Verfrachtung eines 40-Fuß-Containers vom chinesischen Hafen Yantian nach Hamburg im Jahr 2019 noch bei 2.000 Euro lagen, gab es zuletzt Peaks von bis zu 22.000 Euro pro Container. Entscheidet man sich trotzdem für diesen Transportweg, hat der Auftraggeber keine Sicherheit, dass der teuer erstandene Container tatsächlich am vereinbarten Tag den Hafen verlassen wird. Die Abgangshäfen sind schlicht zu überfüllt und können nicht zeitnah abgearbeitet werden. Das führt teilweise zu Situationen wie auf einem Basar, bei dem nur der Höchstbietende (oder der mit dem allgemein größeren Auftragsvolumen) gewinnt. Bei den derzeitigen Planänderungen kann es passieren, dass der Kunde erst am Tag des vorgesehenen Starts erfährt, ob die Ware tatsächlich auf dem Schiff ist oder um einiges später fahren wird.
FACTS: Wie wird sich die Situation Ihrer Einschätzung nach weiterentwickeln? Gibt es neben all diesen negativen Aspekten auch Chancen?
Raschig: Die ersehnte Entspannung der Lage in Bezug auf die Verfügbarkeit von Ressourcen und Kapazitäten, um Ware von A nach B zu befördern, wird durch die Situation in Osteuropa und die erneuten Lockdowns in China noch zusätzlich verschärft. Wir als Unternehmen haben jetzt die Chance, unsere Lieferketten anzupassen, um auch zukünftig Konflikte zwischen Verfügbarkeit und wirtschaftlicher Effizienz vorteilhaft zu meistern. Natürlich hatte das Unternehmen Snom obendrein das Glück, dass unsere Konzernmutter VTech einen ganz anderen Stellenwert einnimmt, als wir es allein jemals gekonnt hätten. Aber wir sind in diesen zwei Jahren generell näher zusammengerückt und profitieren daher von Synergien aus den Langzeitkontrakten beider Gesellschaften und von der Verteilung vom Versandvolumen über mehrere Partner via Einkauf auf dem Spotmarkt.
FACTS: Welche weiteren Maßnahmen haben Sie ergriffen, um die Zuverlässigkeit von Lieferungen zu gewährleisten?
Raschig: Wir suchen stets nach Möglichkeiten für Lieferzeitoptimierungen sowohl im Import als auch im Export und bedienen uns mittlerweile des gesamten Portfolios. Zudem hat Snom schon sehr früh den Fokus auf Alternativen wie Schienentransporte und See-/Luftkombinationen gelegt und mittlerweile ein großes Netzwerk an Transport- und Logistikunternehmen zu seiner Verfügung. Dadurch war das Unternehmen in der Lage, selbst in den kritischsten Pandemie-Phasen Ware für Projektgeschäfte und Spezialanfertigungen mit Lieferzeiten von unter einem Monat bereitzustellen. Aus einem Produktportfolio von 146 Artikeln sind derzeit sieben nicht lieferbar. Dank des Erfolges dieser Strategie hat sich Snom trotz der allgemeinen Kostenexplosion in der Logistik auch noch gegen die Umlage der höheren Transportkosten auf die Produktpreise entscheiden können.
Die Versorgungssicherheit entlang der gesamten Wertschöpfungskette ist die Herausforderung, der wir uns derzeit stellen. Hier die Ruhe und den Überblick zu behalten, ist manchmal schon eine sportliche Angelegenheit. Mittelfristig arbeiten wir aber natürlich auch an nachhaltigen Veränderungsprozessen in der Gestaltung unserer Lieferketten, die vor allem die Transparenz für unsere Geschäftspartner erhöhen sollen. Gemeinsam mit unseren Logistikpartnern tragen wir so zum Erfolg unserer Vertriebspartner bei.“
Elke von Rekowski